Die heutige Arbeitswelt ist zu großen Teilen von einer Bewegungsmonotonie, also immer gleichen resp. immer wiederkehrenden Bewegungsmustern gekennzeichnet. Nicht nur langes Sitzen mit den bekannten Nachteilen für unser hoch komplexes Bewegungssystem, den Brust- und Baucheingeweiden sowie dem Herz-Kreislauf- und Stoffwechselsystem, auch langes, monotones Stehen kann unser Bewegungssystem übermäßig belasten. Belastung ist in diesem Kontext jedoch nicht nur als eine normale und notwendige Beanspruchung der Strukturen des passiven und aktiven Bewegungsapparates, sondern auch als einen zu geringen Informationsstrom an unsere motorische Steuerung im zentralen Nervensystem zu verstehen. Auch diese „Informationsarmut“ kann für uns als reizaufnehmende, komplex psycho-somatische Wesen mittel- und langfristig ein Problem darstellen.

Stehen als artgerechte Haltung

Die Frage, ob Stehen gesund oder gar schädlich sein kann ist für uns Menschen hinfällig. Denn seit wir uns auf zwei Beinen fortbewegen stehen wir auch auf zwei Beinen. Wir Menschen, die einzigen aufgerichteten Lebewesen, verfügen über artspezifische „Körperhaltungsprogramme“, über die in dieser Komplexität und Differenziertheit kein anderes Lebewesen verfügt. Mit dem Stehen nehmen wir eine relativ ökonomische Aktionshaltung ein, bei der der Körperschwerpunkt in der Körperaufrichtung leicht über die Unterstützungsfläche der Füße gebracht werden kann. Dies ist unsere artgerechte Haltung, die den gesamten menschlichen Körper in der Vertikalen über einer relativ kleinen Unterstützungsfläche hält. In dieser Haltung können wir agieren, reagieren, unsere Mimik und Gestik frei einsetzen und unsere Sprache und Atemtätigkeit entfalten. Unser Skelett, insbesondere die Wirbelsäule und die tragenden Gelenke (Sprung-, Knie- und Hüftgelenke), werden axial belastet, den Muskeln wird ihr freies, stetig haltungsregulierendes Muskelspiel ermöglicht und unser zentrales Nervensystem bekommt adäquate Informationen aus allen Meldeorganen des Bewegungssystems. Dadurch kann unsere haltungsregulierende und bewegungsdurchführende Muskulatur geregelt und zielgerichtet gesteuert werden.

Dynamisches Stehen

Wie eingangs erwähnt, kann jede monotone Haltung zunächst einen gewünschten physiologischen Belastungsreiz für unser Bewegungssystem haben, jedoch rasch zu ungünstigen Belastungen i.S. zu hoher Belastungen aktiver und passiver Strukturen führen. Von Seiten des Nervensystems betrachtet kann es zu einer Abnahme adäquater, Haltungs- und Bewegungsregulierender Afferenzen kommen. Um einer Bewegungsmonotonie an einem Steh- oder Steh-Sitzarbeitsplatz entgegenzuwirken, gilt es neben dem immer wiederkehrenden Wechsel zw. Sitzen und Stehen auch im Stehen zusätzliche „Bewegungsreize“ zu setzen. Diese können einen wesentlichen Beitrag für eine längere Arbeitszeit in unserer artgerechten Haltung leisten, da die durch normale Schwankungen stetig stattfindende Bewegungsdynamik um zusätzliche, größere Bewegungsmuster ergänzt wird.

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Abb. 1: Sitz-Steh-Dynamik als eine Möglichkeit der Dynamisierung von Arbeitsplätzen.

 

 

 

 

 

 

 

Ergonomische Hilfsmittel für dynamisches Stehen

Im Wesentlichen können wir zwischen zwei Systemen für zusätzliche Stehdynamik unterscheiden. Zum einen bieten spezielle Fußstützen für Steharbeitsplätze die Möglichkeit, durch das Aufstellen eines Beines (dem sogenannten „Spielbein“) die Belastung insbesondere der tragenden Gelenke der Beine, des Kreuzdarmbeingelenkes und des unteren Rückens zu ändern.

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Abb. 2: Das Aufstellen eines Beines auf einer Fußstütze bietet die Möglichkeit, die Belastung der tragenden Gelenke zu ändern.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das aufgestellte Bein erfährt hierbei eine Entlastung i.S. einer Abnahme der axialen Belastung. Je nach Verlagerung des Körperschwerpunktes kann es hierbei zu einer Belastungsänderung im Spielbein kommen, wenn der Körperschwerpunkt trotzdem auf beide Beine verteilt wird. Dies aktiviert die für die Streckung zuständigen Muskeln im aufgestellten Bein, insbesondere über dem Knie- und dem Hüftgelenk. Wird der Körperschwerpunkt hingegen größtenteils über das Standbein verlagert, so wird das aufgestellte Spielbein weitestgehend entlastet und das Standbein trägt die überwiegende Körperlast. Zeitangaben, wie lange eine Haltung mit einer Fußstütze eingenommen werden sollte sind nach meinen Erfahrungen nicht sinnvoll, da der Anwender seine Belastungsverteilung automatisch, unbewusst reguliert. Der Einsatz einer Fußstütze wird in der regelmäßigen praktischen Anwendung nach einer Eingewöhnungszeit automatisiert und erlaubt trotz Belastungswechsel die volle Konzentration auf die eigentliche Arbeitsaufgabe (zunehmende Automatisierung des dynamischen Bewegungsverhaltens).

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Abb. 3: Spezielle Fußstützen für Steharbeitsplätze ermöglichen einen einfachen Belastungswechsel.

 

 

 

 

 

 

 

Neben den Fußstützen bieten sich sog. Stehboards an, stehende Tätigkeiten zu dynamisieren. Der Nutzer steht dabei beidbeinig auf dem neig- bzw. kippbaren Board und erfährt eine Destabilisierung seiner Unterstützungsfläche.

steppieAbb. 4: Das Steppie bietet als Stehboard eine zusätzliche Dynamisierung am Steharbeitsplatz.

 

 

 

 

 

Stehboards bieten den Vorteil, dass jede Bewegung zu einer mit- oder gegenläufigen Bewegung des Boards führt, was den Informationsstrom für die Bewegungssteuerung erhöhen kann und den Belastungswechsel zw. den Beinen zusätzlich dynamisiert. Eine unbewusste Bewegungssteuerung kann hier gegenüber den Fußstützen schneller erreicht werden. Dies bedeutet, dass der Anwender die Belastungsänderung leichter automatisiert.

Stehdynamik im Alterungsprozess

Altern ist kein chronologischer, sondern ein biologischer Prozess! Mit zunehmendem Alter nehmen u.a. die Vernetzungen und Informationsübertragungen im Nervensystem und damit auch die komplexen motorischen Programme ab.

Das Allheilmittel heißt lebenslange Bewegung! Hier können Steh- (Sitz-)arbeitsplätze mit zusätzlichen ergonomischen Hilfsmitteln einen wertvollen Beitrag, gerade bei zunehmender Sitzdauer im Alter, leisten. Die vermehrten Bewegungsimpulse an unser Gehirn können möglicherweise den abnehmenden “Verschaltungen” entgegenwirken und fördern Gesundheit und Konzentration, auch und gerade im zunehmenden Alter.

Zusammenfassung

  • Eine längere Bewegungsmonotonie kann zu einer übermäßigen Belastung unseres komplexen Organismus führen und durch eine „Dynamisierung“ der Arbeitsprozesse durchbrochen werden.
  • Neben Steh-Sitzlösungen bieten sich zusätzliche ergonomische Hilfsmittel für dynamisches Stehen an: Spezielle Fußstützen für Stehtische und Stehboards.
  • Ein wichtiger Effekt dynamischer Hilfsmittel besteht v.a. in der Informationszunahme aus peripheren und zentralen Rezeptoren für unsere zentralmotorische Steuerung.

Diesen Artikel finden Sie auch auf den Seiten 26 und 27 in der Ausgabe Nr. 56 der interdisziplinären Fachinformation “AGR aktuell” der Aktion Gesunder Rücken e.V.

Bleiben Sie in Bewegung! Ihr Christof Otte

 

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