Einleitung

In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf die Bandscheiben, denn diese müssen immer noch als “Übeltäter” vieler Rückenleiden und für ergonomische Überlegungen und Argumente herhalten. Gerade bei der Nutzenanalyse „ergonomischer (beweglicher) Sitzsysteme“ als auch bei der „Sitz-Steh-Dynamik“ stehen die Belastungen resp. die Entlastungen bestimmter (Sitz-) Haltungen auf die Bandscheibe im Fokus der Argumente.

Seitdem im 19. Jahrhundert die ersten Bandscheibenvorfälle als Ursache von Rückenschmerzen vermutet wurden und durch die seit den 1930er Jahren routinemäßig durchgeführten Bandscheibenoperationen, nimmt dieser Scheibenförmige Faserring den Mittelpunkt des Interesses bei Rückenleiden ein.

Anatomie

Die 23 Bandscheiben liegen zwischen den Wirbelkörpern der Hals-, Brust- und der Lendenwirbelsäule. Lediglich die gelenkige Verbindung zwischen Hinterhaupt und dem ersten Halswirbel und zwischen dem ersten und dem zweiten Halswirbel verfügt über keine Bandscheibe. Eine Bandscheibe besteht aus zwei Bestandteilen, aus einem äußeren Faserring und aus einem inneren, gallertartigen Kern.

bandscheibe-querschnittAbbildung 1: Wirbelsäulenquerschnitt mit u.a. der Bandscheibe, bestehend aus dem äußeren, mehrschichtigen Faserring und dem inneren Gallertkern. (Bildquelle und ©: Spiegel-Verlag)

 

 

 

 

 

 

 

Der Faserring ist aus mehreren Schichten aufgebaut, wobei v.a. die äußeren Schichten eine große Festigkeit aufweisen und nur einen geringen Anteil an elastischen Fasern haben. Die Gewebsfasern der einzelnen Faserringschichten liegen in unterschiedlichen Richtungen zueinander, wodurch jede Bewegung in einem Wirbelsegment optimal mechanisch gedämpft wird. Die äußerste Faserschicht wird noch von Blutgefäßen versorgt und dadurch ernährt. Auch wird der äußere Bandscheibenbereich von Nerven versorgt. Im übrigen Bandscheibengewebe gibt es weder Nerven noch Gefäße. Die Bandscheibe besitzt in der Mitte nicht nur vermehrt elastische Fasern, sondern auch einen Kern gallertartiger Substanz. Dieser wirkt als hydroelastisches Bewegungselement, da er die Fähigkeit besitzt, Wasser zu binden. Durch seinen Druck übt er Spannung nach allen Seiten aus. Dieser hält den Abstand zwischen zwei Wirbelkörpern aufrecht.

Physiologie

Die Ernährung der Bandscheiben findet nur zum geringen Teil über die Blutgefäße des äußeren Faserringes statt. Der Hauptteil des Bandscheibenstoffwechsels findet durch den Wechsel von Druckbe- und Entlastung der Bandscheiben statt. Dies geschieht, indem bei Druck Flüssigkeit aus der Bandscheibe in die Umgebung, vorwiegend in den Wirbelkörper, abgegeben wird (dieser Vorgang wird als Dehydration bezeichnet). Auf der Ober- und Unterseite eines Wirbelkörpers, den sogenannten Deckplatten, befindet sich eine ca. 1 mm dicke Knorpelschicht. Durch diese Knorpelschicht und durch die Deckplatten des Wirbelkörpers kann die Nährflüssigkeit, die zu ca. 80% aus Wasser besteht, hindurchdringen. Das geschieht zum einen mechanisch. Bei Druck auf die Bandscheibe, z.B. im Sitzen oder Stehen, wird diese „gepresst“ und die Flüssigkeit wird in den Knorpel und in den Wirbelkörper „gedrückt“. Bei Entlastung der Bandscheibe, z.B. beim Liegen, entsteht durch die nicht mehr axial wirkende Schwerkraft und die nachlassenden Muskelspannungen ein vorübergehender Unterdruck in dem Bandscheibengewebe und die Flüssigkeit wandert langsam zurück in die Bandscheibe (dieser Vorgang wird als Rehydration bezeichnet). Interessant ist, das diese Nährflüssigkeit nicht nur mechanisch von der Bandscheibe in den Knorpel und Wirbelkörper bzw. aus dem Wirbelkörper und Knorpel in die Bandscheibe „gepresst“ und „gesogen“ wird, sondern auch chemisch und nach anderen physikalischen Prinzipien. Die Grundsubstanz der Nährflüssigkeit ist nicht das Wasser, sondern ein Makromolekülgemisch. Dieses besitzt eine starke Wasseranziehungskraft (die sog. Proteoglykane dieser Grundsubstanz besitzen eine hydrophile Kraft, die Elektrolyte dieser Grundsubstanz besitzen eine osmotische Kraft) und hat dadurch großen Einfluss auf die Elastizität und Quellbarkeit der Bandscheibe bzw. des Gallertkernes. Es findet dadurch nicht nur ein mechanischer Flüssigkeitstransport statt, da mit der Zunahme von Wasser in der Bandscheibe diese Grundsubstanz verdünnt wird und dadurch die Ansaugkraft reduziert. Kommt es durch eine mechanische Belastung der Bandscheibe zu einer vermehrten Wasserabgabe aus der Bandscheibe, so nimmt die Konzentration der Grundsubtanz relativ zu und sie „zieht“ Flüssigkeit in die Bandscheibe zurück. Dieser Druck, den die Grundsubstanz aufbaut, wirkt dem mechanischen Druck entgegen und verhindert damit eine Auf Quellung der Bandscheibe bzw. eine Flüssigkeitsleere der Bandscheibe. Diese Flüssigkeitsleere könnte aufgrund des Höhenverlustes zu Instabilitäten in den Wirbelsegmenten und zu Überlastungen der kleinen Wirbelbogengelenke führen.

Biomechanik

Nachdem wir uns nun erste Kenntnisse zu den Bandscheiben erworben haben, wollen wir uns einmal die Bandscheibenbelastungen in verschiedenen Körperhaltungen vor Augen führen.

Die Grenze der Flüssigkeitsaufnahme und –abgabe liegt bei einem Belastungsdruck der Bandscheibe im unteren Lendenbereich von etwa 80 kg. Durch verschiedenen Körperraumlagen und Körperhaltungen wird dieser Druck wesentlich beeinflusst. Ende der 1960er Jahren wurde zum ersten Mal die Abhängigkeit des inneren Bandscheibendruckes in Bezug zu verschiedenen Körperhaltungen von Alf Nachemsons et al. (1970) gemessen und beschrieben (s. Abb. 2). Diese ursprünglichen Messungen wurden an lebenden, beschwerdefreien Menschen mit starren Sonden in den Bandscheiben der unteren Lendenwirbelsäule vorgenommen. Jüngere Studien (v.a. von Wilke et al. 1999, 2001) mit flexiblen Sonden stützten die ursprünglichen Ergebnisse weitestgehend, auch wenn es bei einzelnen Positionen Abweichungen gibt. So herrscht in Rückenlage ein durchschnittlicher Bandscheibendruck von ca. 25 kg, im Stehen ein durchschnittlicher Bandscheibendruck von ca. 100 kg und im aufrechten Sitzen ein durchschnittlicher Bandscheibendruck von ca. 140 kg (Körpergewicht und Muskelzug), der in den aktuelleren Studien jedoch nur bei ca. 100 kg liegt.

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Abb. 2: Die Druckverhältnisse in den Bandscheiben in verschiedenen Körperpositionen (in Anlehnung an Nachemsons).

 

 

 

 

 

 

Ob das Sitzen statisch oder dynamisch gestaltet ist wird an diesem Druck nichts ändern! Ganz im Gegenteil: Studien haben belegt, dass der Bandscheibendruck bei Kippbewegungen ansteigt (u.a. Reuber et al. 1982; Shirazi-Adl et al. 1986, Adams et al. 1996, Steffen et al. 1998). Ein innerer Bandscheibendruck von 140 kg ist beeindruckend hoch, für ein gesundes Bandscheibengewebe aber gut verkraftbar. Auch über eine längere Zeit des Sitzens oder Stehens kann die Bandscheibe diesem Druck problemlos standhalten, ohne Schaden zu nehmen. Wenn wir uns noch einmal bewusst machen, dass die Grenze der mechanischen Flüssigkeitsaufnahme in die Bandscheibe bei ca. 80 kg liegt, so führen alle vertikalen Körperhaltungen zu keiner ausreichenden Entlastung der Bandscheibe, in der das Flüssigkeitsvolumen signifikant zunehmen kann. Der Wechsel zwischen Stehen und Sitzen am Arbeitsplatz leistet keinen entscheidenden Beitrag, die Flüssigkeitsaufnahme in die Bandscheibe zu verbessern, da der Bandscheibendruck bei einem derartigen Haltungswechsel deutlich über dem Grenzwert der mechanischen Flüssigkeitsaufnahme liegt. Studien (vgl. z.B. Leivseth & Drerup 1997, Magnusson 1990 und 1996) belegen, dass Stehen keine Alternative zum Sitzen darstellt, was den Höhenverlust der Bandscheibe durch die Belastung betrifft. Entlastender scheint der Wechsel zwischen der aufrecht sitzenden Position und der auf dem Bürostuhl mit Hilfe der Synchronmechanik und Nackenstütze nach hinten abgelegten Position bei hochgelegten Beinen zu sein. Hier unterschreitet der interne Bandscheibendruck der Grenzwert der mechanischen Flüssigkeitsaufnahme. Messungen haben hier einen Druck von ca. 75 kg in der Bandscheibe ergeben (vgl. Abb. 2). Dies erweist sich während beruflich sitzenden Tätigkeiten noch als die beste Maßnahme der Drucksenkung in der Bandscheibe, vorausgesetzt, die nach hinten abgelegte Position wird mindestens 20 Minuten beibehalten. Je weiter sich der Sitzende mit Hilfe der Synchronmechanik nach hinten ablegen kann, desto mehr wird der innere Bandscheibendruck sinken. Die Füße sollten dabei mindestens auf Hüfthöhe, also auf dem Tisch liegen. Dabei kann man jedoch nicht effektiv arbeiten. Die Einnahme dieser „Entspannungshaltung“ bleibt also kurzen Augenblicken der „Gedankensammlung“ oder eines Telefonates vorbehalten, nicht jedoch, um die Bandscheibe mit Flüssigkeit zu versorgen. Grundsätzlich ist zu überlegen, ob man für solche Tätigkeiten nicht besser aufstehen sollte um sich zu bewegen, denn der (vertikalen) Bewegung ist ein allgemein größerer Nutzen beizumessen als dem ruhenden Sitzen.

Schlussfolgerung

Aus diesen Erkenntnissen stellt sich grundlegend die Frage, kann eine wie auch immer dynamisch „gelagerte“ Sitzfläche oder eine „Sitz-Steh-Dynamik“ einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung der Bandscheiben und den gesamten „passiven“ Strukturen der Wirbelsäule liefern? Um diese Frage beantworten zu können, reichen die rein biomechanisch-anatomischen Erkenntnisse nicht aus. Denn diese Frage ist bei unserem jetzigen Kenntnisstand klar zu verneinen, zumal die durch die Bewegungsdynamik vom Sitzen zum Stehen bzw. auf dynamischen Sitzflächen erhöhte Muskelaktivität an der Wirbelsäule den Druck auf die Bandscheiben erhöhen könnte! Mehr Bewegung in einem Segment nimmt nicht den Druck von der Bandscheibe, kann aber deren Widerstandsfähigkeit und Faserausrichtung optimieren. Um die Wertigkeit eines dynamischen Verhaltens am Arbeitsplatz beurteilen zu können, müssen wir neurophysiologische Erkenntnisse berücksichtigen, denn die Argumentation anhand passiver Strukturen wie der Bandscheibe oder der Wirbelbogengelenke ist zu einseitig und geht am Kern der Fragestellung nach einem optimal ergonomischen Arbeitsplatz  vorbei.

Wichtig ist es abschließend zu erwähnen, dass die Bandscheibe hoch belastbar ist und von Belastung “lebt”! Wir brauchen Belastung auf unsere Gewebe, um Belastbar zu sein und zu bleiben. Bandscheibenschäden entstehen aufgrund jahre- bis jahrzehntelanger Degenerationen des Fasergewebes auf Grundlage von Koordinationsstörungen der wirbelsäulenstabilisierenden Muskulatur. Hauptursache: Bewegungsmangel und monotone, repititive Bewegungsabläufe…

Bleiben Sie in Bewegung! Ihr Christof Otte

 

P.S. “Dauerbrenner” Bandscheibe: Wie ist Ihre Meinung dazu? Schreiben Sie mir – gleich unten steht Ihnen ein Kommentarfeld zur Verfügung!

 

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Literatur

Adams et al. (1996) ‘Stress’ Distributions Inside Intervertebral Discs. In: The Bone & Join Journal 78 (6), S. 965ff.

Leivseth, G.; Drerup, B. (1997) Spinal shrinkage during work in a sitting posture compared to work in a standing posture. In: Clinical Biomechanics 12 (7-8), S. 409ff.

Magnusson, M. et al. (1990) Measurement of time-dependent height-loss during sitting. In: Clinical Biomechanics 5 (3), S. 137ff.

Magnusson, M. et al. (1996) Hyperextension and Spine Height Changes. In: Spine 21 (22), S. 2670ff.

Nachemsons, A.; Elfström, G. (1970) Intravital Dynamic Pressure Measurements in Lumbar Discs. In: Almqvist & Wiksell, Stockholm.

Reuber, M. et al. (1982) Bulging of Lumbar Intervertebral Disks. In: J Biomech Eng 104 (3), S. 187ff.

Shirazi-Adl, A. et al. (1986) Mechanical Response of a Lumbar Motion Segment in Axial Torque Alone and Combined with Compression. In: Spine 11 (9).

Steffen, T. et al. (1998) Lumbar intradiscal pressure measured in the anterior and posterolateral annular regions during asymmetrical loading. In: Clinical Biomechanics 13 (7), S. 495ff.

Wilke, H.-J. et al. (1999) New In Vivo Measurements of Pressures in the Intervertebral Disc in Daily Life. In: Spine 24 (8), S. 755ff.

Wilke, H.-J. et al. (2001) Intradiscal pressure together with anthropometric data – a data set for the validation of models. In: Clinical Biomechanics 16 (1), S. 111ff.